Liebes Publikum,
Sehnsucht – Migration – Flucht: Das sind Themen, die unseren Freund Henning Mankell bis zuletzt intensiv beschäftigten. Dasselbe gilt auch für alle Theaterproduktionen, die wir zur Teilnahme am Stuttgarter Europa Theater Treffen eingeladen haben. Es scheint fast, als wäre der schwedische Autor an der dramaturgischen Auswahl des Festivalprogramms beteiligt gewesen. So ist es nur folgerichtig, dass wir ihm das 13. Stuttgarter Europa Theater Treffen widmen. (Eine Matinéeveranstaltung ihm zu Ehren: Das tri-bühne-Ensemble liest aus seinem sehr persönlichen Buch „Treibsand – Was es heißt, ein Mensch zu sein”, begleitet von Musikern vom Teatro Avenida aus Maputo.)
So unterschiedlich die Herangehensweisen der Produktionen sind, die ästhetischen Stile und, natürlich, die Sprachen, so eint doch alle ein bestechend klarer Blick auf die Verhältnisse innerhalb und außerhalb der Barrieren an den Grenzen Europas – und auf die Gründe, die so viele Menschen in Bewegung oder, im Gegenteil, in Starre versetzen. Und es eint sie die Kraft, die Lebendigkeit, der Humor und die Poesie, die die Inszenierungen transportieren.
Wie fragil das friedliche Zusammenleben in Europa ist, erlebt man im Jahr 2016 beinahe jeden Tag. Das Théâtre Gérard Philipe, beheimatet im Pariser Banlieu St. Denis, zeigt die Ödön von Horváth-Dramatisierung „Ein Kind unserer Zeit” (Inszenierung: Jean Bellorini). Die Perspektivlosigkeit des Protagonisten, die ihn in den Kriegsdienst treibt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Lebensverhältnisse in den Pariser Vorstädten heute.
Wenn die Welt um einen aus den Fugen gerät, dann folgt Verdrängung. Das zeigt das Katona József Theater Budapest mit Mike Leighs „Abigail’s Party” in der Inszenierung von Tamás Ascher. Mit viel Komödiantik und einem bravourösen Ensemble demonstriert Ascher allerdings, dass das kleine private Glück höchst demontagegefährdet ist.
Auf die Spitze der Verdrängung treibt es dann das D(a)Elit_ed theatre aus dem lettischen Riga: „Facebook. PostScriptum.” (Inszenierung: Galina Polišcuka) taucht so tief ein in die virtuelle Realität, dass den Zuschauern der Protagonist (fantastisch: Andris Bulis) abhanden kommt…
Mit realen Flüchtlingen beschäftigen sich zwei Theater: Das ATIR Teatro Ringhiera aus Mailand widmet seine ungeheuer bewegende Produktion „32 Sekunden 16 Hundertstel” der somalischen Sprinterin Samia Yusuf Omar. Diese kam bei der Pekinger Olympiade 2008 zwar weit abgeschlagen durchs Ziel, rannte sich aber in die Herzen aller Zuschauer. 2012 floh sie nach Europa, einfach, weil sie laufen wollte und es in der Heimat nicht durfte. Sie ertrank vor der Küste Maltas… Nach „Italia Anni Dieci” und „Alla mia età…” ist dies eine weitere fulminante Inszenierung der italienischen Regisseurin Serena Sinigaglia.
Somalia ist auch Thema beim Berliner Heimathafen Neukölln: „Ultima Ratio” (Inszenierung: Nicole Oder) hat den Untertitel „Ein Kirchenasyl-Fall in Neukölln als Live Graphic Novel”. Der hochinteressante Genrehybrid aus Schauspiel und Bühnenmalerei in Echtzeit stellt das Schicksal von Aliyah und Rooble ins Zentrum, die im Kirchenasyl in Neukölln durch eine mutige Pfarrerin große Menschlichkeit erfahren.
Armut und Krieg sind die Fluchtursachen Nummer 1: Das Teatro Avenida (Maputo/Mosambik) zeigt mit „Niemandskinder” die erste Produktion, die mit Henning Mankell, Manuela Soeiro und dem Ensemble Mutumbela Gogo entstanden ist und mit viel Poesie, Lebensfreude und Melancholie das Leben der Straßenkinder in Mosambiks Hauptstadt beschreibt.
Das Berliner Ballhaus Naunynstraße, das sich selbst als „postmigrantisch” bezeichnet, beleuchtet in „Die Dunkelkammer” den Krieg: Texte von Erich Maria Remarque sind die Basis des Stückes über zwei Soldatenschicksale aus gegnerischen Lagern, getrennt durch ihre Feindschaft, vereint durch die gleichen Lebensbedingungen. Ein deutscher und ein griechischer Schauspieler sprechen in ihren Sprachen und verstehen sich dennoch…
Was einen am Ende einer Flucht erwartet, ist Thema des berühmten Einakters „Emigranten” von Slawomir Mrozek. Dieser Text, vom Polnischen ins Kurdische übersetzt, wurde von der Truppe „Ararat Theater” unter der Regie von Fadil Jaf in Erbil auf die Bühne gebracht: eine Stadt im Norden des Irak im autonomen kurdischen Gebiet, 40 Kilometer von der Frontlinie zum IS entfernt.
Und schließlich die Festivalproduktion „In meinem Alter rauche ich immer noch heimlich”, deren Ensemble zu einem großen Teil aus Künstlern mit Migrationshintergrund besteht. Die algerische Autorin Rayhana, die inzwischen in Paris lebt, wird bei der Premiere anwesend sein.
Neben dem Festivalhauptprogramm gibt es ein reiches Rahmenprogramm, das vor allem den Menschen gewidmet und von den Menschen gemacht ist, die freiwillig oder unfreiwillig hierher nach Stuttgart gekommen sind. Dabei sind sie z. T. schon lange organischer Teil der Stadtgesellschaft geworden. Unter dem Titel „Probebühne Europa” stellen wir konkrete Fälle ausländischer und baden-württembergischer zwischenmenschlicher Verbindungen vor. Wir zeigen geglückte Beispiele kultureller Verschmelzungen von der Liebe bis hin zu Kunst, Wissenschaft oder Projekten in unterhaltsamen Performances mit kleinen kulinarischen Überraschungen. Diese Reihe wird nach dem Festival fortgesetzt.
Generell gibt es natürlich Begegnungen, Gespräche und Musik mit den eingeladenen internationalen Künstlern und Ensembles in unserem Foyer.
Sprachbarrieren für Sie wird es keine geben: Alle fremdsprachigen Produktionen werden deutsch übertitelt oder simultan übersetzt.
Wir wünschen Ihnen spannende, bereichernde Theatererlebnisse und schöne Begegnungen beim Festival!
Edith Koerber und Stefan Kirchknopf, Festivaleitung